Ökologie und Entwicklung

Vortrag vom 3.3.1993 in Linz an der Johannes Kepler Universität Linz

José A. Lutzenberger Die Menschheit steht vor einer Wende. Eine folgenschwerere Wende als alle bisherigen. Folgenschwer besonders für die Schöpfung als Ganzes. Wohl nie in der Geschichte des Lebens auf diesem Planeten gab es eine so schlimme Krise, und die Geschichte des Lebens währt bereits drei bis vier Milliarden Jahre. Überall in der Welt sind wir dabei, die lebenserhaltenden Systeme der Biosphäre abzubauen oder ernsthaft zu beschädigen.

Wir befinden uns in einer eigenartigen Situation. Ca. 20% der Menschen, die sogenannte Erste Welt, und das schließt die Reichen in der Dritten und Zweiten Welt ein, leben in einem Konsumwahn, einem Lebensstil, der zur totalen Verwüstung des Planeten führen muß. Die vorherrschende Doktrin geht aber davon aus, daß dieser Lebensstil auf die ganze Welt ausgedehnt werden muß, was die Katastrophe nur beschleunigen würde.

Man stelle sich nur vor, die 1,1 Milliarden Chinesen hätten vergleichsweise soviele Autos wie die Erste Welt. Hier in Österreich dürften es 1,7 oder 1,8 Einwohner pro Wagen sein. Heute haben wir weltweit ungefähr eine halbe Milliarde Autos. Bei 5,6 Milliarden Menschen wären das dann schon an die 3 Milliarden Wagen. Es wird aber damit gerechnet, daß wir im Jahre 2020 oder 2030 schon nahe an die 10 Milliarden Menschen sind. Sechs Milliarden Wagen kann die Erde nicht verkraften. Wenn wir das erreichten, wären wir alle tot.

Es ist also undenkbar, den Lebensstandard der Ersten Welt auf die Gesamtbevölkerung der Erde auszubreiten.

Während dieser Lebensstil aber auch nur unter den Reichen weiter anhält, wird die Dritte Welt immer ärmer, die Erde wird immer mehr verwüstet.

Folglich stimmt etwas nicht mit unseren Zielen.

Wir müssen uns doch grundsätzlich neu überlegen, was wir wollen. Wir müssen uns fragen, was ist Fortschritt. Wenn Fortschritt das ist, was wir in den letzten 50 Jahren praktiziert haben, dann mag das ganz gut gewesen sein für einen kleinen Teil der Menschheit, aber es war katastrophal für 80% der Menschen und für die Natur.

Es geht nicht mehr nur um technisches Flickwerk, wie anscheinend von den meisten Umweltministerien in der ganzen Welt angenommen wird. Es stimmt auch nicht, daß die Erste Welt die Umweltprobleme einigermaßen im Griff hat, während der Dritten Welt geholfen werden muß, Ordnung zu schaffen.

Selbstverständlich müssen mehr Kläranlagen gebaut werden, brauchen wir noch bessere Filter an unseren Schornsteinen, weniger Gifte in der Landwirtschaft, usw. Aber das reicht nicht, es geht nicht auf den Grund des Problems.

Selbst Fr. Brundtland1 geht davon aus, daß wir Wachstum brauchen, damit wir die Mittel haben, die Schäden zu beheben, die wir bereits angerichtet haben. Aber mehr Wachstum ist doch genau das, was uns in die Katastrophe führt. Jeder Kilometer Autobahn, jede neue Fabrik auf der Wiese bedecken hektarweise fruchtbaren Boden, und das soll Wachstum sein? Das ist doch Abbau von Natur, von Leben.

Es wird immer vorausgesetzt, eine Wirtschaft ist nur gesund wenn sie wächst, wenn sie nie aufhört zu wachsen. Wie ist es möglich, daß die Mächtigen so etwas überhaupt akzeptieren können? Das kommt wohl daher, daß unser heutiges Wirtschaftsdenken auf einer Ebene stattfindet, die mit der Natur wenig zu tun hat. Es wird von einem Modell ausgegangen, welches einen in eine Richtung fließenden Strom sieht, der von einer Unendlichkeit zu einer anderen geht. Auf der einen Seite werden keine Grenzen gesehen in der Verfügbarkeit von Ressourcen. Natürlich wird zugegeben, daß so manches endlich ist, z.B. das Erdöl. Es werden aber dann immer neue Substitutionen postuliert. Wir haben ja noch genug Steinkohle, dann noch Kernenergie aus Kernspaltung, dann Kernverschmelzung, Sonnenenergie großtechnisch genutzt und, vielleicht, in ferner Zukunft, Energie aus dem Zusammenprallen von Materie und Antimaterie. Auf der anderen Seite, ein unendlich großes Loch für all unsere Abfälle. Auch wenn überall die Deponien bereits platzen, die Flüße und Meere vergiftet sind, wir werden neue Wege finden, und wenn wir eines Tages unseren Dreck per Rakete zur Sonne schießen müssen. Also keine Grenzen.

Wenn ich davon ausgehe, daß der Strom zwischen zwei Unendlichkeiten fließt, dann gibt es natürlich keinen Grund, warum er nicht immer und immer mächtiger werden kann. Diesen immer mächtiger werdenden Strom sehen die Wirtschaftswissenschaftler angetrieben von einem geschloßenen Kreislauf von Geld. Aber Geld läßt sich aus dem Nichts schaffen.

Die Welt ist aber nicht so. Alle lebenden Systeme bestehen aus geschlossenen Kreisläufen von Ressourcen. Die Abfälle und Leichen der einen sind immer die Rohstoffe der anderen. Wenn das Leben Ressourcen verbrauchte, wie unsere Wirtschaft, dann wäre es wohl schon ganz am Anfang, noch im Stadion der Komplexität von Bakterien, erloschen. Angetrieben werden die materiellen Kreisläufe des Leben vom offenen Fluß der Sonnenenergie.

Der Fluß der Sonnenenergie ist zeitlich für uns unendlich. Unsere Sonne wird noch einige Milliarden Jahre brennen. Er ist aber flächenmäßig begrenzt, ca. 1.400 Watt pro Quadratmeter bei unserer Entfernung von der Sonne, ca. 1,5 Millionen Kilometer. Die Sonnenenergie kann effizient nur dezentral genützt werden und, was viel wichtiger ist, wir können heute nicht klauen, was unseren Kindern und Nachkommen gehört, wie wir es mit dem Petroleum machen und den Erzen. Das dürfte der Hauptgrund sein, weshalb die Technokratie so wenig Interesse an der Sonnenenergie zeigt.

Fortschritt wird heute nur am Geldstrom gemessen. Das Bruttosozialprodukt mißt aber nur den Geldumlauf in einer Volkswirtschaft, ohne Rücksicht darauf, was dieser Geldumlauf anstellt. Wenn wir in Brasilien ganze Berge abbauen, um billig Eisenerz und Aluminium in die Erste Welt zu exportieren, dann wird in unserem BSP nur aufaddiert, wieviel Devisen die Exporteure dafür kassiert haben. Nirgends in dieser Rechnung wird der Abbau des Berges, das nicht mehr existierende Erz, der zerstörte Wald, usw., abgezogen.

Die Ökonomie sieht Schaffung von Reichtum im Abbau von Natur.

Das BSP als Maßstab für Fortschritt, so wie es heute gesehen wird, ist eine total absurde Rechnung. Angenommen, die Umweltverschmutzung würde derart zunehmen, daß wir alle krank sind, mehr Ärzte brauchen, Krankenschwestern, Medikamente, Krankenhäuser, das BSP würde entsprechend wachsen, für die Wirtschaft wäre das Fortschritt... Eine gesündere Bevölkerung wäre Mangel an Fortschritt!

Wir brauchen eine neue Buchhaltung, eine Buchhaltung die wirklich Fortschritt mißt. Dann müßten aber Schäden und Verluste, Abbau von Natur abgezogen werden. Dann müßten wir uns auch fragen, sind die Menschen wirklich glücklicher mit dem was wir heute Fortschritt nennen? Ist es nachhaltig?

Das Dogma der Notwendigkeit unbegrenzten Wachstums bringt positive Rückkoppellung ins System. Positive Rückkoppelung ist die Verhaltensform, die eine Reaktion hervorruft, die das Verhalten noch verstärkt, wie beim Schneeball. Dem Schneeball können wir nicht helfen mit mehr Schnee und mehr Hang. Positive Rückkoppelung führt grundsätzlich zu Instabilität und Kollaps.

Wir müssen uns in Richtung homöostatische Wirtschaft entwickeln, eine Wirtschaft mit negativer Rückkoppelung. Eine homöostatische Wirtschaft kann durchaus sehr dynamisch sein, muß nicht stagnieren, sie ist aber stabil, nicht statisch. Lebende Systeme sind alle homöostatisch aber sehr dynamisch. Wir brauchen also eine Technologie und Wirtschaftsweisen, die nicht vom Konsum von Natur leben, sondern sich in die natürlichen Systeme eingliedern, wie das alle Lebewesen immer getan haben, einschließlich wir Menschen in vergangenen Zeiten.

Nach dem Zusammenbruch der repressiven Regimes im Osten glauben heute viele, allein der Mechanismus des freien Marktes könne all unsere wirtschaftlichen Probleme lösen. So, wie er heute funktioniert, führt der Markt aber zu immer größeren sozialen und ökologischen Katastrophen. Der Markt ist zwar ein kybernetischer Mechanismus zum Ausgleich von Kräften, aber zu sozial und ökologisch wünschenswerten Ergebnissen führt er nur, wenn alle Kräfte präsent sind. Dies ist aber nie der Fall. Nehmen wir ein Gedankenexperiment. Eine sehr wertvolle, alte chinesische Vase wird versteigert. Im Raum befinden sich Museumsdirektoren und andere, die wissen wie kostbar das Stück ist. Der Anbieter ist aber ein Dieb, der es möglichst schnell loswerden will. Wenn sich die potenziellen Käufer abstimmen, gelingt es ihnen für einige wenige hundert Dollar abzuschließen. Dies ist doch die Situation der Rohstoffe aus der Dritten Welt. Wer bietet denn hier das Tropenholz an? Doch nicht die Einwohner dieser Wälder, die verzweifelt für ihre Erhaltung kämpfen!

Auch sieht der Markt nur Kaufkraft, ausgedrückt in Geld, nicht echte Bedürfnisse. Der arme Teufel, der in Kalkutta in der Nacht auf dem Bürgersteig verreckt, als seine ganze Habe nur ein Lendentuch hat, morgens von der Müllabfuhr mitgenommen wird, hat enorme Bedürfnisse aber keine Kaufkraft. So wird der größte Teil der Menschheit vom Markt gar nicht wahrgenommen.

Und wo erscheinen in unseren heutigen Märkten die zukünftigen Generationen?

Und wie steht es mit der Schöpfung? Sie ist am Markt erst recht nicht gegenwärtig!

Ein weiterer grundsätzlicher Fehler in unserem Wirtschaftsdenken basiert auf einer Verwechslung, die wohl oft Absicht ist. Politiker verwechseln immer Betriebswirtschaft mit Volkswirtschaft. Wenn ein Manager sagt, das kann ich nicht machen, das ist nicht ökonomisch, oder, das kann man nur so machen, sonst ist es unwirtschaftlich, dann meint er seine Betriebswirtschaft. Es kann aber etwas für meinen Betrieb gut sein und für die Volkswirtschaft sehr schlecht und umgekehrt. Angenommen, hier an dieser Stelle gäbe es Petroleum, es lagerte aber so tief, daß mehr Energie für die Pumpe aufgewendet werden müßte, als dabei rauskommt. Aus volkswirtschaftlicher Sicht müßte man es unten lassen. Für einen mächtigen Unternehmer aber, der sich die Pumpe oder den Preis subventionieren läßt, kann es ein gutes Geschäft sein. So ähnlich läuft doch die Sache bei der Kernenergie. Die Politiker akzeptieren meistens die Sprache der Technokratie, sind oft gar nicht in der Lage zu unterscheiden, weil sie die Ideologie der Technokratie kritiklos verinnerlicht haben.

Es werden heute vorwiegend Techniken und technologische Infrastrukturen gefördert, die von den Mächtigen in deren Sinn konzipiert und entwickelt werden, die uns dann aufgezwungen werden, oft mit entsprechender Gesetzgebung - man siehe all die Lobbies in den Parlamenten und in Brüssel - oder sie werden uns mit einem für die meisten Menschen unwiderstehlichen Reklameschwall schmackhaft gemacht. Etwa, wenn Autos uns nicht mehr als technisch effiziente Transportmittel, sondern als Statussymbol angeboten werden. Wenn einer sich für anderthalb oder mehr Millionen Schilling ein Auto kauft, könnte er sich doch auch gleich ein Schild umhängen, wo draufsteht - ich bin doof! Für dieses Geld kann ich doch dauernd Taxi fahren, brauche mich nicht um Parkplatz, Auftanken, Versicherung, etc. kümmern und es bleibt noch Geld übrig.

Das Auto ist sowieso schon das unwirtschaftlichste und verschwenderichste Massentransportmittel. Man frage einen Fabrikbesitzer oder Manager, ob er sich eine Maschine zulegen würde, eine teure, komplexe, rasch veralternde Maschine, die mehr als 90% der Zeit herumsteht und im Wege steht, die auch, während sie arbeitet, meistens die anderen gleichartigen Maschinen stört - man siehe die verstopften Autobahnen. Die persönliche Beweglichkeit, mit der immer argumentiert wird, könnte durchaus erhalten bleiben, bei besseren öffentlichen Verkehrsmitteln, ergänzt durch öffentliche PKWs für die Strecke von der Haltestelle bis zum Endziel. Es wäre insgesamt weit billiger, die Materialschlachten mit den Autos könnten um 80-90% reduziert werden, mit enormen Einsparungen an unwiederbringlichen Ressourcen. Warum macht man sowas nicht? Weil das der Technokratie nicht paßt. Das Argument mit den Arbeitsplätzen zieht auch nicht. Wo immer die Technokratie Arbeitsplätze einsparen kann, tut sie es rücksichtslos. Siehe das heutige "Gesundschrumpfen".

Geplante Veralterung, z.B., jedes Jahr neue Modelle bei Wagen die kaum technische Vorteile bieten, dafür aber unnötig abgeänderten Firlefanz, wie immer neue Formen für Schlußlichter, Chromzirate, usw., wofür es schon nach wenigen Jahren keine Ersatzteile mehr gibt, das hat doch auch nichts mit Erhaltung von Arbeitsplätzen zu tun, sondern nur mit Umsatzerhaltung und -ausweitung. Ebenso, absurd luxuriöse Verpackung, Einwegbehälter und Geräte die man einmal nutzt und wegschmeißt, sinnlose Energieverschwendung und dergleichen.

Echte Zunahme an Produktivität durch technischen Fortschritt müßte sich doch in einer wirklich vernünftigen Wirtschaft auswirken in mehr Freude für die Menschen, daß heißt, weniger Arbeitszeit, bequemere Arbeit für dieselbe Befriedigung echter menschlicher Bedürfnisse. Wir hätten alle mehr Zeit für Kultur, für menschliche Beziehungen, Freundschaft, Liebe, Kunst, Natur. Statt dessen suggeriert uns ein gewaltiger Reklameapparat, immer neue, immer absurdere Bedürfnisse, für die wir immer mehr arbeiten müssen und die Technik macht immer mehr Menschen arbeitslos.

Wenn es den Mächtigen wirklich darum ginge, echte menschliche Bedürfnisse zu befriedigen, dann hätten wir eine ganz andere Technik. Leider sind die meisten Menschen, auch die Gebildeten, heute unfähig, dies zu durchschauen. Wir sind eine hundert Prozent von der Technologie geformte und von ihr abhängige Kultur, die globale Kultur des Industrialismus. In dieser Kultur haben wir aber einen verhängnisvollen Widerspruch. Die große Mehrheit der Menschen ist in Naturwissenschaften, auf denen ja die Technik aufbaut, Analphabet, und in der Technik haben wir vornehmlich enge Spezialisten, hervorragend in ihrem engen Gebiet, aber unfähig, das Gesamtbild zu sehen und zu verstehen. Für die meisten Menschen, auch für die meisten Politiker ist es daher kaum möglich, die heutigen Machtstrukturen zu erkennen.

Sehen wir die moderne Landwirtschaft. Sie gilt als extrem effizient im Vergleich zu traditionellen Bauernkulturen. Während früher vierzig oder mehr Prozent der Bevölkerung auf dem Land arbeiteten, heißt es jetzt, heute genügen ca. 2%, um als Bauern die Gesamtbevölkerung zu ernähren und noch Überschüße dazu zu produzieren. Eine phantastische Steigerung in der Effizienz. Wenn dieser Vergleich stimmte, hätten wir tatsächlich keine Alternative. Er hinkt aber. Der traditionelle Bauer war, gesamtwirtschaftlich gesehen, ein autarkes System der Produktion und Verteilung von Nahrungsmitteln. Er produzierte seine eigenen Betriebsmittel, Dünger, Energie und anderes und brachte seine Produkte zum größten Teil am Wochenmarkt direkt zum Konsumenten. Der heutige Bauer ist doch nur noch ein Traktorfahrer, ein kleines Schräubchen in einer gewaltigen techno-bürokratischen Infrastruktur. Wenn wir die Effizienz der Landwirtschaft heute mit der von früher vergleichen wollen, dann müssen wir eine andere Rechnung aufstellen. In dem Maße, wie sie direkt oder indirekt für das heutige System der Produktion, Verarbeitung, Verpackung und Verteilung von Lebensmitteln beitragen, müssen wir die Arbeitskräfte und Arbeitszeiten mitrechnen in: den Ölfeldern in Saudiarabien, Irak, Iran, Venezuela, etc., den Gasfeldern im Osten, Bergwerken, in Carajás, Amazonien, Stahlküchen, Aluminiumhütten, in dem großen Staudamm am Tucuruí, der den subventionierten Strom für die Aluminiumhütten liefert; in der Agrarchemie mit ihren Kunstdüngern und Giften, den Phosphatminen in Nordafrika, den Kalibergwerken, den Kunststoffabriken für die Verpackungen, der Verpackungsindustrie; im Transportwesen, besonders, wo es unsinnig ist, wie, wenn in Schleswig-Holstein Schweine mit Soja aus Südamerika gemästet und geschlachtet werden, dann nach Süditalien verfrachtet, dort Salami italiano gemacht, der in Bayern verzehrt wird; den großen Sojamonokulturen in Süd- und Zentralbrasilien mit der gesamten technischen, chemischen und sonstigen Paraphernalia, die dazugehört; der Seeschiffahrt, die Sojaschrot, Tapioka und Ölpalmentorte über Ozeane transportiert, im Banksystem, in dem Maße, wie es all diese technologischen und kommerzielen Strukturen finanziert. Dann kommt ein großer Teil der modernen Computerei, Soft- und Hardware-Leute, hinzu, und, und, und. Und all die Subventionen!

Diese Rechnung hat, meines Wissens, noch niemand aufgestellt. Alles eingeschloßen kämen wir in der Gesamtwirtschaft wohl auch auf mindestens 40% der Arbeitszeit aller Berufstätigen.

Eigentlich haben wir doch nur eine Umverteilung von Arbeitsplätzen. Die Person, die in der Bank vor dem Computer sitzt und die Kredite für die Bauern, oder die Agrargifte, Dünger, etc., etc., bearbeitet, zählt nicht als Bauer, ist aber Teil des Gesamtapparates der Produktion und Verteilung von Nahrungsmitteln.

Es stimmt auch nicht, daß die moderne Landwirtschaft, auf den Hektar gerechnet, viel ertragreicher ist als eine gute Bauernkultur. Das mag in extremen Fällen so sein, wie wenn ein holländischer Landwirt bis zu zehn Doppelzentner Korn vom Hektar holt. Im Allgemeinen ist es aber nicht so. Bei uns in Rio Grande do Sul haben die deutschstämmigen Bauern früher in ihrem vielseitigen Wirtschaften, weit über zehn Tonnen Nahrung vom Hektar geholt, und es war vielseitige Nahrung für Menschen - Korn, Gemüse, Kartoffeln, Süßkartoffeln, Maniok, Obst, Fleisch, Zucker, Schnaps, Wein, Hopfen, und vieles mehr. Die großen modernen Monokulturen kommen trotz Fruchtfolge mit Soja im Sommer und Weizen im Winter noch nicht auf vier Tonnen im Schnitt. Und hier wird nicht für Menschen produziert, trotz des Hungers im Land, sondern für die fetten Kühe im Gemeinsamen Markt...

Zur Energiebilanz in der Landwirtschaft brauchen wir nicht viel zu sagen, außer, daß sie fast immer negativ ist. Ein Skandal, da doch Landwirtschaft eigentlich darin besteht, daß Sonnenenergie über Photosynthese biochemisch gebunden wird, als Nahrung, Rohstoff, Brennstoff. Heute stecken wir da mehr Energie rein, als wir rausholen, noch dazu hauptsächlich Energie aus fossilen Brennstoffen, die nicht nachwachsen.

Am schlimmsten aber sind die sozialen Kosten der Modernen Landwirtschaft. Überall in der Welt wurden im Laufe der letzten 50 Jahre gesunde, organisch gewachsene Strukturen zerstört. Dieser Prozeß geht weiter. In Spanien kann man ihn heute beobachten. In Mexiko führt er jetzt zu Bürgerkrieg. In Bangalore, Indien, fand am 3. Oktober 1993 eine von den Medien totgeschwiegene gigantische Protestaktion statt. Eine halbe Million Bauern aus Indien und den Nachbarländern demonstrierte gegen GATT, die Weltbank, Biotechnologie und für nachhaltige bäuerliche Landwirtschaft. Endlich ein Hoffnungszeichen! Weltweit sind Hunderte von Millionen Bauern und Landarbeiter in die Slums gezogen, oder, wie in Brasilien, in die letzten Wildnisse eingedrungen, siehe Amazonien. Das unbeschreibliche Elend und die ökologische Verwüstung sind Kosten der Modernen Landwirtschaft, die ihr angelastet werden müssen.

Eine Lektion, die heute leider vergessen wird - in den schweren Nachkriegsjahren, ab 1945, konnten in Deutschland und Österreich die Städter auf dem Lande hamstern gehen. Die Bauern hatten Kartoffel, Getreide, Gemüse, Obst, Eier, Käse, usw. Heute kauft der Bauer sein Essen zum größten Teil auch im Supermarkt. Die Bauern bauen nicht mehr vielseitig an, sie sind Spezialisten und total von der Industrie, Energie, Bankwesen, Kommunikation, Transport abhängig. Noch nie waren wir so verwundbar wie heute. Wäre ich Verteidigungsminister, ich würde mich um die Wiederherstellung eines gesunden nachhaltigen Bauerntums kümmern, nicht um Raketen.

Nun droht der Landwirtschaft von Seiten der Biotechnologie noch größere Verwundbarkeit durch Abhängigkeit. Die großen Firmen der Agrarchemie haben im Laufe der letzten zwei Jahrzehnte weltweit fast sämtliche Saatgutfirmen aufgekauft. Selbst während des Höhepunktes der "Grünen Revolution", die bereits zum Verlust von über 90% der biologischen Vielfalt in unseren kultivierten Pflanzen beigetragen hat, haben die Pflanzenzüchter außer für mehr Produktivität, auch noch zum Teil in Richtung Widerstandsfähigkeit gegen Schädlinge und Krankheitserreger gezüchtet. Heute sind deren Bosse aber diejenigen, die den Bauern Agrargifte verkaufen wollen... Eine der bevorzugten Richtungen in der modernen Saatgutzüchtung ist die Suche nach Resistenz gegen die eigenen Herbizide. Der Bauer soll in Zukunft überhaupt nicht mehr seine eigene Saat benutzen dürfen. Er soll gefälligst patentiertes Saatgut kaufen, Samen, die schon beschichtet sind mit Kunstdünger, Fungiziden, Insektiziden und mit Herbiziden, die alle Nebenkräuter töten außer dieses Saatgut. Was hat das alles noch mit Fortschritt zu tun? Zusätzlich zur weiteren Abhängigkeit kommen dann noch größere, unwiederbringliche Verluste in der Artenvielfalt unserer Kultivare. Noch in den fünfziger Jahren gab es im fernen Osten viele Tausende von Sorten Reis, in Europa viele Hunderte von Sorten Weizen, Roggen, Hafer, Hirse, Gerste, Obst, usw. Heute pflanzen wir in Südbrasilien, in Uruguay, auf Hawaii, in Louisiana, China, in den Ländern Indochinas, auf den Philippinen und den indonesischen Inseln, sowie in Japan, überall das selbe halbe Dutzend Sorten. In Europa werden nur noch wenige Getreidesorten angebaut, auf der ganzen Welt stehen in den Apfelplantagen dieselben Sorten. Die Konsumenten durchschauen das alles nicht, die Politiker sind der Technokratie hörig, akzeptieren deren "Sachzwänge", die Landwirtschaftlichen Hochschulen lehren die Ideologie der Industrie, die "Forschung" wird vorwiegend von der Industrie selbst, in ihrem Sinne, betrieben und die Beratung wird sowieso von der Industrie beherrscht.

Wir brauchen also eine politische und soziale, sowie ökologische Kritik der Technik. Es wird uns suggeriert, Wissenschaft sei wertfrei. Dann wird immer Wissenschaft und Technik verwechselt. Wenn wir aber zwischen Wissenschaft und Technik nicht unterscheiden, dann ist Technik auch wertfrei. Dann müssen wir alle neue Technik, die uns aufgezwungen wird kritiklos akzeptieren, handelt es sich doch um unabwendbaren Fortschritt des menschlichen Geistes. Mit den neuen Sachzwängen, aus denen wir dann nicht mehr herauskönnen, müssen wir uns abfinden.

Aber Wissenschaft ist nicht wertfrei und Technik erst recht nicht. Wissenschaft ist ein Wert an sich.

Was ist Wissenschaft? Naturwissenschaft ist der saubere, aufrichtige Dialog mit dem Universum. Die Wissenschaft will die Gesetzmäßigkeiten im Verhalten des Universums ergründen. In der Wissenschfat gibt es keine Lüge. Wer in der Wissenschaft versucht zu betrügen, ist per definitionem kein Wissenschaftler. Und was ist Technik? Die Technik nutzt die Information, die die Wissenschaft der Natur abgerungen hat um Artefakte zu machen, Instrumente zur Ausführung von einem Willen, sei es des Erfinders, sei es sein Vorgesetzter, seine Firma, seine Machtstruktur. Das ist immer in gewissem Sinne politisch. Nun, während Wissenschaft per definitionem sauber sein muß, ist die Technik voll von Lüge, Betrug und dient oft genug der Ausbeutung von Mensch und Natur. Weder Wissenschaft noch Technik sind also wertfrei. Beide sind sehr emotiv, aber die Emotionen sind entgegengesetzt. Wissenschaft ist kontemplativ, Technik impositiv. Natürlich sind beide untrennbar, Technik kommt ohne Wissenschaft nicht aus und Wissenschaft nicht ohne Technik. Wenn wir nicht immer mehr von den Technokraten an der Nase herumgeführt werden wollen, wenn wir den Weg in eine nachhaltige Wirtschaft gehen wollen, müssen wir klar unterscheiden.

Für die meisten Menschen ist das nicht leicht. In unserer heutigen Kultur haben wir eine unüberbrückware Kluft entstehen lassen: Auf der einen Seite die Naturwissenschaften, auf der anderen die Geisteswissenschaften und auf beiden Seiten ist auch alles zerklüftet. Die verschiedenen Disziplinen haben keine gemeinsame Sprache mehr. Die Universitäten haben schon gar nicht mehr die Absicht, weise Menschen zu bilden, Menschen mit einem breiten naturwissenschaftlich, technisch, ethischen Horizont. Eigentlich will man nur noch Fachidioten ausbilden. Das ist auch so der Technokratie dienlich. Die modernen technologischen Machtstrukturen dürfen nicht in Frage gestellt werden.

Wir brauchen eine breite, allumfassende, holistische Bildung. Man mag argumentieren - aber es ist doch unmöglich für einen Einzelmenschen sich auch nur in seiner Spezialisierung hundertprozentig auszukennen, geschweige denn in allen wissenschaftlichen Disziplinen. Das stimmt, wenn ich mir alles Detailwissen aneignen will. Das brauchen wir aber doch gar nicht. Es ist möglich, in allen wichtigen Disziplinen das Grundsätzliche zu verstehen, soweit, daß man mit den Spezialisten ein intelligentes Gespräch führen kann. Und das macht auch Riesenspaß.

Die Naturwissenschaft gibt uns ein phantastisches Weltbild, von den kleinsten Fundamentalteilchen bis hin zu Hunderten von Milliarden Galaxien und Quasaren, von der rein biochemischen, präbiotischen Evolution vor über vier Milliarden Jahren bis hin zu Delphinen und uns Menschen. Holistisch betrachtet läßt sich von diesem gewaltigen Weltbild eine neue, eigentlich sehr, sehr alte allumfassende Ethik ableiten. Aus dieser Sicht ist die Erde eben nicht, wie das die meisten unserer Mächtigen heute sehen, nur ein Gratislagerhaus, wo wir uns nach Belieben bedienen können, nein, die Erde, der einzige lebendige Planet, den wir bis jetzt kennen, ist wie ein lebender Organismus in dem wir Menschen mit all den anderen Lebewesen nur ein Teil eines größeren Ganzen sind. Aus einem globalen Verantwortungsgefühl ergibt sich dann auch ein neues Wirtschaftsdenken und eine lebenfördernde, nicht mehr lebenkonsumierende oder degradierende Technik.

04.03.1994

1 - Premierministerin Norwegens, eine der Hauptfiguren bei der Umweltkonferenz in Rio, 1992.

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